Kyїv - Reise zur alten Wirkungsstätte, im Krieg
Ralf kennt die Stadt Kyїv sehr gut, war er doch lange Zeit der Pfarrer der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche St.Katharina in Kyїv.
Ein Gastbeitrag von Ralf Haska
Von jungen Frauen und Kindern und zwei Hunden
Es geht pünktlich los. 26 Stunden mit dem Bus liegen vor mir. Und vor vielen Müttern mit ihren Kindern. Ich zähle nur 3 Männer im gesamten bis auf den letzten Platz ausgebuchten Bus. Ansonsten Mütter mit ihren Kindern. Und zwei Hunde. Alle zurück auf dem Weg nach Kyjiw. Mein kleiner Nachbar fragt seine Mutter nicht nur einmal: „Hast Du Papa schon angerufen. Hast Du ihm schon Bescheid gesagt?“ Man spürt die Aufregung und die Sehnsucht, den Vater endlich wiederzusehen. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Menschen zurück in ihre Heimat fahren, weil sie in Deutschland schlecht aufgenommen worden seien, oder weil sie Deutschland Vorwürfe machen wegen der schleppenden Waffenlieferungen. Das Interview mit Botschafter Melnyk lese ich erst in Kyjiw, deshalb frage ich die Reisenden nicht danach. Melnyk hat in allem Recht, was er an der Haltung Deutschlands und BK Scholz kritisiert, aber hier irrt er und leistet seinem Land mit dieser rüden Kritik sicher keinen guten Dienst.
An der Grenze Polen-Ukraine stehen reihenweise Fahrzeuge. Über mehrere Kilometer. Gott sei Dank hat der Bus „seine eigene“, nämlich die Gegenspur, auf der er bis zur Grenze vorfährt. Wie mag es all den Fahrern gehen, die hier vielleicht ein oder zwei Tage stehen? Unsere Abfertigung dauert 1,5 Stunden. In dieser Zeit wird aus der Nacht in Polen der Tag in der Ukraine. In Lviv steigen die ersten Fahrgäste aus, neue hinzu. Und so geht es an den anderen Stationen ebenso. Der Bus passiert viele Blockposten, Straßenkontrollposten. Jede Brücke ist bewacht durch ukrainisches Militär. In Zhitomir sehe ich dann die ersten Kriegsschäden an Gebäuden. Das Armeeinstitut dort ist beschossen worden. An so manchem Gebäude fehlen Dach und alle Fenster. Und man fragt sich unweigerlich: wie viele menschliche Opfer hat das Bombardement gefordert? Pünktlich kommt der Bus in Kyjiw an. Ich werde erwartet und in meine alte Pfarrwohnung in die Luteranska gebracht. Erstmal kurz ausruhen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, nach 7 Jahren in die Wohnung zurückzukommen, die mal für 6 Jahre unser Familienzuhause war. Und die nun nach der Abreise des jetzigen Pastors verwaist ist. Irgendwie fremd und doch vertraut.
Von (vorerst) verschonten Gebäuden
Was tun mit dem angefangenen Nachmittag? Es bleiben nicht mehr viele Stunden, bis es dunkel wird. Zuerst ein kurzer Gang zur Kirche. Sie steht. Gott sei Dank. Viele Gedanken hatte ich mir in den letzten Wochen um das Gebäude gemacht. Es steht nur wenige Meter neben der Administration des Präsidenten und bietet mit der Administration zusammen sicher ein gutes Ziel für russische Terrorangriffe. Vor der Administration hat Selenski in den ersten Tagen des Krieges zusammen mit seinem Kabinett sein berühmtes Video aufgenommen: „Wir sind hier!“ so hat er seinem Volk gezeigt und damit sicher zur Motivation und zum Kampfeswillen beigetragen. Später höre ich von jemandem aus der Gemeinde, dass sie einmal eingesperrt wurden in den ersten Tagen. Draußen vor der Kirchentür wurde geschossen. Man hat damals 4 Männer aufgreifen können, die einen Anschlag auf den Präsidenten ausführen wollten. Jetzt ist alles ruhig, natürlich abgesperrt und ohne die Fragen der Soldaten nach dem Woher und Wohin kommt man nicht in die Kirche. Die Kirche selbst ist leer, nur der Wächter und die Organistin begrüßen mich herzlich. Am Sonntag wird die Kirche voll sein.
Vom aufmerksamen, verteidigungsbereiten Platz und Wasser am Abend
Ich gehe den alten Weg zum Maidan. Wie oft früher gegangen, insbesondere während der Revolution der Würde. Ich komme unten an und sehe die große Säule und das dahinterliegende Hotel Ukraina in goldener Abendsonne. Sollte hier Krieg sein? Die Spuren des Kriegs aber sind auch hier zu sehen. Panzersperren und Stacheldraht stehen momentan ein wenig zur Seite gerückt auf dem Gehweg, um jederzeit wieder griff- und einsatzbereit zu sein. Und viele kleine Fahnen stecken im Gras, die an die hunderten Kinder erinnern, die Putins Terrortruppen bereits getötet haben. Ich sehe auch den Eingang zur METRO (U-Bahn Station) Kretschatik, der mit Sandsäcken geschützt ist. Momentan muss sich niemand in den Metrostationen bergen, aber auch hier scheint man auf alles vorbereitet zu sein. Auf den Sandsäcken ist die bereits legendäre Parole aufgemalt, die die Verteidiger der Schlangeninsel den russischen Angreifern entgegenriefen: Russkij woenij korabl - idi na chui! (Russisches Kriegsschiff - fick dich!) Ich gehe zurück in die Wohnung. Die Busfahrt steckt mir doch noch in den Knochen. In dem kleinen Kellerladen, der noch immer an seinem Platz ist und auch geöffnet hat, möchte ich mir noch ein Bier für den Abend kaufen. Aber es ist bereits 20.30 Uhr und die Verkäuferin erklärt mir freundlich, dass ab 19Uhr kein Alkohol mehr verkauft werden darf. Wasser tut’s auch.
Von ökumenischen Freunden und einer Einladung
Ich schlafe etwas länger, bevor ich mich aufmache zu Igor Shaban. Wir haben ein Treffen vereinbart für 13 Uhr, nach dem Gottesdienst, den er in seiner Gemeinde in Borispol zu halten hat. Igor ist Beauftragter für Ökumene des Patriarchen Swjatoslaw Schewtschuk der Griechisch-Katholischen Kirche. Ich nutze zum ersten Mal in meinem Leben die Uber-App und bestelle mir ein Fahrzeug. Man kann sogar angeben, dass man es im Auto kühler mag. Das ist bei den Temperaturen von über 30 Grad auch angebracht. Allerdings funktioniert heute im Auto des Uberfahrers die Klimaanlage nicht. Sie ist kaputt. Mag sein, vielleicht will er aber auch einfach Sprit sparen, denn der ist Mangelware, und wird, so es welchen gibt, auch rationiert zugeteilt. Wir kommen pünktlich an. Wir, denn ich hatte spontan Jörg Drescher eingeladen, mitzukommen. Igor Shaban empfängt uns in seinem Privathaus. Seine Kinder hat er sicherheitshalber in den Westen der Ukraine gebracht. Ich frage ihn nach der Situation der Kirche und der Gemeinden. Insbesondere sind die Gemeinden im Osten sehr betroffen. Zwar sind viele Gemeindeglieder geflohen, manchmal sogar alle, aber die Geistlichen sind alle vor Ort geblieben und helfen nun bei Evakuierungen und humanitärer Hilfe. Die Gemeinden im Westen sind voller Flüchtlinge. Sie haben viele Menschen aufgenommen und stehen vor großen Herausforderungen, die Flüchtlinge zu versorgen. Borispol hatte vor dem Krieg 60000 Einwohner. Jetzt, so schätzt Igor, vielleicht noch die Hälfte. Und doch sind auch hier über 4000 Flüchtlinge untergebracht, alle in Privathäusern, manche bei Bekannten und Verwandten, andere bei denen, die ihr Haus und Herz öffneten. Einige Einblicke in die Arbeit als Kapelan bekommen wir.
Kapellan, so wird der Militärgeistliche bezeichnet. Auch diese Aufgabe hat Igor. In dieser Funktion hat er schon einige ukrainische Soldaten beerdigen müssen. Eine Überlegung, warum der internationale Flughafen Borispol nicht bombardiert wurde, lautete: Putin wollte doch kommen. Wo sollte der landen? Gut, dass er sich auch noch einen Funken Humor in all dem Schrecklichen bewahren konnte. Doch die Berichte über die Kämpfe, über die nahe Front, die Bomben und Raketen lassen mich erschaudern. Zum Schluss bitte ich Igor Shaban, herzliche Grüße an Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk auszurichten.
Am Sonntag nach dem Gottesdienst treffe ich Erzbischof Jewstrati Sorja. Er ist, wenn man das so flapsig sagen kann, die rechte Hand von Metropolit Epiphani, dem Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine. Es war nicht leicht, in seinem vollen Terminkalender eine Lücke für meinen Besuch zu finden. Aber ihm wie mir war es wichtig, einen Moment Zeit zum Gespräch zu haben. Und so spazieren wir durch den Park der Metropolie. Und auch Erzbischof Jewstrati erzählt von den unglaublichen Zerstörungen und Verbrechen der russischen Terrortruppen in Tschernigiv und Umgebung. Wir kommen darauf zu sprechen, dass der Erzbischof wegen des Angriffes und Beschusses seine Mutter zu ihrem Geburtstag nicht besuchen konnte. Er zeigte sich erfreut über den Besuch des Augsburger Bischofs Müller in der vergangenen Woche. Und ich frage ganz gezielt nach der Beziehung zur EKD. Ich werde seine Worte nicht vergessen und spüre die Irritationen in dieser Beziehung. Ich mache mir so meine Gedanken. Und verstehe nicht, warum Bischof Kramer, der Friedensbeauftragte der EKD meint, über die Ukraine und die friedensethischen Positionen der EKD in diesem Krieg reden zu können, ohne auch nur einmal mit den ukrainischen Kirchenvertretern geredet zu haben. Meine Einladung, diese Reise mit mir zusammen zu unternehmen, ließ Bischof Kramer bis heute unbeantwortet. Dabei ist es so wichtig, sich vor Ort ein Bild zu machen und die kirchlichen Würdenträger zu fragen und ihnen zuzuhören. Und hier lasse ich Igor Shaban noch einmal zu Wort kommen: „Wir beobachten sehr genau die Positionen in den Kirchen.“ Ganz sicher auch die der EKD.
Und auch Schrödingers Katze kam in unserem Gespräch zu Ehren. Worauf sich das bezog, können sich vielleicht viele denken und sei hier nicht weiter ausgeführt. Wir freuen uns, dass wir als Christenmenschen einen Herrn haben, zu dem wir alle beten. Und wir tun das unabhängig von der Konfession und beten um Frieden. Der Erzbischof betont die Kraft und Wichtigkeit des Gebetes und berichtet aus eigener Erfahrung, wie dankbar Soldaten sind, wenn für sie gebetet wird und sie gesegnet werden. Erzbischof Jewstrati und ich verabschieden uns nach 45 Minuten herzlich. Er macht sich sogleich auf den Weg zu einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung nach Deutschland. Gut so!
Von Einer lebendigen Gemeinde im Krieg
Der Sonntag ist dem Gottesdienst mit der Gemeinde gewidmet. Natürlich habe ich vorab Bischof Pavel Schwarz um Erlaubnis gebeten, in meiner alten Gemeinde Gottesdienst feiern zu dürfen. Und ich frage mich, wie viele wohl kommen werden. Ich weiß von geflüchteten Gemeindegliedern, die in München und auch bei uns in Selb und anderswo Unterschlupf gefunden haben. Aber viele sind auch geblieben, haben die ersten bangen Wochen oftmals in Luftschutzkellern ausgeharrt. Das Leben der Gemeinde aber pausierte nicht. Der Kontakt zu Lidia Zelsdorf, der Gemeindeleiterin, war die ganze Zeit da. Sie kümmerte und kümmert sich rührend um die dagebliebenen Gemeindeglieder. Und so kommen über 60 Gottesdienstbesucher. Es sind viele vertraute Gesichter dabei. Die Freude über das Wiedersehen ist auf beiden Seiten groß. Und auch viele neue Gesichter sehe ich. Das freut mich sehr. Wie oftmals, so sind auch heute internationale Gäste anwesend. Drei Mitglieder des Lutherischen Weltbundes, die mit Bischof Schwarz über gemeinsame Projekte beraten haben und nun mit der Gemeinde den Sonntagsgottesdienst feiern. Der Chor in (fast) voller Stärke gestaltet den Gottesdienst musikalisch. Teile der Liturgie werden mittlerweile von Sergej Henkel, einem Vorsänger des Chores, gesungen. Das macht alles sehr festlich und feierlich. Zum Abendmahl kommen wir in zwei großen Kreisen zusammen und der Friedensgruß ist wohl diesmal noch intensiver und noch mehr aus dem Herzen kommend und zu Herzen gehend: Friede sei mit dir! Nach dem Gottesdienst findet ein Benefizkonzert statt, das Pavlo Shevel auf dem großen Flügel in der Kirche spielt. Es wird Geld gesammelt für ein Projekt der Gemeinde: Hilfe für Menschen in kleinen Dörfern. Schon einmal hat die Gemeinde einen Hilfstransport in kleine, abgelegene Gemeinden gefahren. Die Not ist groß, die Geschichten schrecklich, die die Menschen erzählen, wie die von dem alten Mütterchen, dessen Haus zerbombt wurde, das sich weiterhin um seine überlebenden Pflanzen im Garten kümmert und nun reihum bei Nachbarn übernachtet, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Mit dem gesammelten Geld und den Sachspenden, die im Bibliotheksraum der Kirche schon gestapelt bereit stehen, wird der nächste Transport geplant. Die großen Kisten voller Hilfe aus England, die am Montag noch dazukommen, gehen auch mit auf die Reise. Mich erinnert das alles an die Tage und Monate 2014/2015, wo die Gemeinde schon einmal zu einem großen Hilfszentrum wurde.
Wenn das keine lebendige Gemeinde ist! Wie kann man Gott dankbar dafür sein!
Von (glücklichen) Krankenwagen und starken Frauen
Ja, und Valentina Varava, die unermüdliche Ärztin, die damals mit vielen anderen das Lazarett in der Kirche mit betrieb und die Hilfe in den Osten mitorganisierte: Sie kommt auf einen Sprung am Nachmittag vorbei. Am nächsten Morgen bricht sie zu einer Reise nach Holland auf, wo sie den ersten Teil von 19 Krankenwagen für die Ukraine abholen wird. Sie ist dazu vom Gesundheitsministerium beauftragt worden. Und sie erzählt, dass natürlich nur Frauen die Fahrzeuge fahren werden, denn die Männer können das Land nicht verlassen. Eine starke Frau(enmann)schaft. Aber das habe ich nicht anders erwartet. Und wir verabreden einen Besuch in Marktleuthen, wenn die zweite Tour der Rettungswagen aus Holland sich auf den Weg macht, denn dann soll die großzügige Spende eines Ultraschallgerätes von Dr. Stockhammer aus Marktleuthen mit auf den Weg in ein ukrainisches Krankenhaus gehen.
Valentina erzählt auch von dem Krankenwagen, den sie letztes Jahr aus Deutschland geholt hat. Damals machte sie auch in Marktleuthen Station. Dieser Wagen ist an der Front im Einsatz und hat neulich einen Beschuss überlebt. Nur wenige Zentimeter vor ihm ist eine Granate explodiert. Der Wagen ist beschädigt worden, wird aber wieder repariert. Die Sanitäter sagen: Das ist ein glücklicher Wagen, nur wenige Zentimeter weiter - und man möchte sich nicht ausmalen, was passiert wäre.
Von Sirenen und (noch) wenigen Kindern
Ich bin 4 Abende in Kyjiw und jeden Abend ist Luftalarm. Am Abreisetag hören wir im Bus die Sirenen bei der Einfahrt unseres Reisebusses nach Zhitomir. Irgendwie scheint das weder die Busfahrer, noch die Insassen zu interessieren und wohl auch nicht die Menschen am Busbahnhof wie wohl auch die auf den Straßen in Kyjiw . Und doch ist das wohl nur scheinbare Unaufmerksamkeit. Denn auch das höre ich bei meinen Gesprächen: Es schläft sich schwer ein und Sirenen schrecken einen noch immer aus dem Schlaf. „Wie kann man ruhig schlafen, wenn man nicht weiß, ob man am nächsten Tag noch da ist.“ Von anderen höre ich, dass sie kaum das Haus verlassen, umimmer in der Nähe eines Kellers zu bleiben. Und andere tun sehr cool und meinen, sich gewöhnt zu haben. Angst äußert sich bei jedem anders und jeder geht mit dieser auch anders um. In jedem Fall zeigen die Sirenen und die Luftalarme: Es ist weiterhin Krieg und es kann jederzeit jeden treffen. Russland schießt vom Kaspischen Meer, von der Krim oder von Schiffen aus dem Schwarzen Meer Raketen ab, von denen niemand weiß, wen sie ins Verderben stürzen. Und doch wirkt die Stadt wieder lebendig. Bei einem Treffen mit einem alten Bekannten erzählt er mir, wie er im April zurück nach Kyjiw kam und die Straßen vollständig leer und das Leben vollständig erstorben erlebt hat. Jetzt flanieren wieder Menschen, die Geschäfte und Restaurants haben geöffnet, wenn auch nur bis 21 Uhr, damit jeder bis zur Sperrstunde um 23 Uhr zu Hause sein kann. Der Schewtschenkopark ist gut besucht. Was mir aber auffällt: Es sind wenig Kinder dabei. Obwohl bereits Ferien sind, gähnen die Kinderattraktionen im Park vor Leere. Vielleicht sind sich doch noch viele nicht ganz sicher und lassen die Kinder noch an sicheren Orten im Westen der Ukraine oder in den Fluchtländern.
Zum Schluss
Ich spüre bei vielen Gesprächen die - begründete - Furcht vor einem wiederholten Angriff auf Kyjiw. Man versteht, dass Putin es auf die Vernichtung der Ukraine abgesehen hat. Es geht ihm nicht um den Donbas allein. Somit ist die ganze Ukraine in Gefahr. Das Entsetzen über das Wüten und Morden und die massiven Kriegsverbrechen steckt tief. Ich hörte auch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den oftmals recht positiven Einschätzungen ukrainischer Offizieller und Medien zum Kriegsverlauf. Manche haben Bekannte und Freunde im Kampf. Der Satz: „Ich würde niemanden raten, jetzt nach Kyjiw zuzurückzukehren“ fasst die Befürchtungen in einfache mahnende Worte. Im Übrigen steckt die Enttäuschung den Menschen auch in den Knochen. Über 100 Tage Krieg und noch immer sind sich manche Politiker nicht sicher, was man wann und wieviel an militärischer Unterstützung liefern kann. Das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, ist deutlich zu spüren.
Für mich steht fest: Das Zögern in Bezug auf militärische Unterstützung ist falsch. Wir müssen den angegriffenen Ukrainern helfen, sich zu verteidigen und den Feind aus dem Land treiben zu können. Man mag sich nach all den bereits bekannten Verbrechen nicht ausmalen, in was für ein grauenhaftes Todeslager Putin die Ukraine verwandeln wird. Putin wird sich mit der Ukraine sicher nicht zufriedengeben. Moldau steht ohne Schutz da. Die baltischen Staaten und Polen haben erkannt, wie groß die Gefahr ist. Appeasement mit Putin funktioniert nicht. Man kann einem Verbrecher nur mit Härte begegnen. Und leider muss man Frieden und Freiheit auch manchmal mit Waffengewalt verteidigen. Dieser von mir 2014 schon geäußerte Satz, der der EKD überhaupt nicht gefallen hat, bleibt aktuell. Und ja, man hätte vieles wissen können und müssen. Was die russische Luftwaffe in Syrien angerichtet hat, darf nicht aus dem Blick geraten. Der Überfall auf die Krim und den Donbas 2014 und der seitdem bereits von Russland geführte Krieg hätte lehren müssen: Niemand ist vor Putin sicher, kein Krankenhaus, kein Auto mit Kindern, kein Rettungswagen, keine Kirche, keine Theater, kein Wohngebiet. Das, was Putin will und kann, ist: zerstören und töten. Und das nicht nur in Syrien und der Ukraine.
Wer immer noch irgendwelches Verständnis für Putins Krieg zeigt, wer mit welchen abstrusen Ideen auch immer Gründe aufzuzeigen versucht , warum der Krieg unabdingbar war etc., der leistet dem Kriegsverbrecher Unterstützung. Genau das müssen wir der Russisch-Orthodoxen Kirche und Kyrill sagen. Das Oberhaupt und alle, die ihm folgen, machen sich mit einem Kriegsverbrecher gleich. An ihren Händen klebt das Blut von tausenden und abertausenden Menschen. Sie haben mitgeschossen, sie haben mitvergewaltigt, sie haben mitgemordet, mitgeplündert. Wie will man mit diesen Verbrechern einen Dialog führen? Umso wichtiger ist der Blick auf die ukrainischen Kirchen und die, die in der ROK Widerstand leisten. Deshalb erstaunt es mich, wie wenig Interesse unsere deutschen Bischöfe an einem Besuch der Ukraine zeigen. Dass der Friedensbeauftragte Bischof Kramer meine Einladung nicht einmal beantwortet hat, fügt sich in das Bild ein, und macht mich sehr traurig. Desinteresse der Orthodoxen Kirche der Ukraine und der Griechisch-Katholischen Kirche sowie dem ganz ausgezeichneten innerukrainischen ökumenischen Instrument des Allukrainischen Rates der Religionen gegenüber war nie und ist heute umso weniger angebracht. Die Stimme der Orthodoxie in der Ukraine will und muss gehört werden. Der Stimme der Verbrecher sollte keine Bühne gegeben werden. bezüglich der Waffenlieferungen ist klar: Die Ukraine wird selbst wissen, was sie braucht, um gegen die Terrortruppen Russlands bestehen zu können. Ich hege noch immer die ganz leise Hoffnung, dass das Lavieren von Scholz und Co. taktischer Natur und dass bereits viel auf dem Weg und angekommen ist und dass man mit einem solchen wankelmütigen und auf den ersten Blick peinlichen und gefährlichen Verhalten von Teilen der Bundesregierung doch einfach nur die Gegenseite in Sicherheit wiegen und ihr Sand in die Augen streuen will. Da bin ich hoffentlich nicht zu naiv.
Zu guter Letzt hoffe ich sehr, dass sich die EKD sehr schnell dazu aufmacht, einen neuen Pfarrer nach Kyjiw zu entsenden. In Kyjiw schlägt ein sehr europäisches und ökumenisches Herz. Als Deutsche Evangelische Kirche sollten wir Teil davon sein. Die Gemeinde lebt und wächst. Sie feiert Gottesdienst, sie ist ein nicht wegzudenkender Teil der Gesellschaft. Und sie hat großes Potenzial, ein geachtetes und hochangesehenes Mitglied der ökumenischen Gemeinschaft der Ukraine zu bleiben.