665 Tage langsame Vernichtung und unbeugsamer Widerstand.

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Russland versucht nun seit 665 Tagen die Ukraine vollständig zu vernichten. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine indes dauert nun schon fast 10 Jahre an. Dies ist unsere Meinung, und wir wollen aufzeigen mit welchen Konsequenzen wir rechnen müssen - langfristig.

Am 24. Februar 2022 hat Russland versucht, die Ukraine, aber auch den Rest der Welt zu überrumpeln und die Ukraine in wenigen Tagen vollständig zu erobern. Das Kalkül war, die Weltgemeinschaft sehr schnell vor vollendete Tatsachen zu stellen, ein starkes Zeichen der Macht zu senden - nach innen wie auch nach außen und die Basis zu schaffen, die Ukraine für immer aus der Geschichte der Welt zu streichen. Der Plan scheiterte an dem ungebrochenen Widerstand der Ukrainer, die sich seit nun 665 Tagen mit Hilfe westlicher Waffen gegen die Vernichtung stemmen.

Der Widerstand ist als Erfolg der Ukraine zu sehen. Die Gesellschaft stand noch nie so geschlossen. Der Wille zum Überleben ist überwältigend. Langfristig zeichnet sich aber ein anderes Bild ab, welches dieses kurze Zitat sehr gut beschreibt:

“Wir werden langsam aufgefressen”

Mychajlo Podoljak

Auch wenn Russland kaum Gelände in der Ukraine gewinnen kann, der Zustand der Ukraine wird immer schwieriger. Jeden Tag, den der Krieg andauert, wird es schmerzhafter für das Land und die Bevölkerung. Das Bild, dass Russland die Ukraine langsam, aber sicher auffrisst, ist treffend.

Der Grund für diese Situation ist nicht in der Ukraine zu suchen, sondern bei uns im Westen. Auch nach 665 Tagen scheint es, als habe man den Ernst der Lage nicht erkannt. Die Ukraine wird mit Waffen und Munition versorgt. Dies ermöglicht die Aufrechterhaltung des Widerstands. Aber es ist qualitativ und quantitativ deutlich zu wenig, um die Ukraine zu befähigen, die territoriale Integrität des Landes in den Grenzen von 1991 wieder zu erkämpfen.

Was Russland in den 665 Tagen gewinnt, sind wichtige Erkenntnisse aus dieser Situation:

● In der Regierung ist man sich bewusst darüber, dass die Gesellschaft in Russland keine Probleme damit hat zu leiden, um den Krieg fortzuführen. Es hat den Anschein, dass sich seit vielen Jahrzehnten in den Köpfen nicht viel verändert hat. Im Krieg leiden die Menschen in Russland und begehren nicht auf. Selbst wenn die Verluste unfassbar sind. Sie stehen in der Mehrheit hinter ihrer Regierung und dem Machthaber.

● Die Umstellung auf Kriegsindustrie wird von der Bevölkerung hingenommen. Es ist kein Problem im Inneren nun mehr Ausgaben für Rüstung als für Soziales zu haben.

● Die Maßnahmen, die der Westen getroffen hat, um Russland für den Angriff zu sanktionieren, sind überschaubar. Viele Maßnahmen treffen Russland nicht schwer genug. Es gibt noch immer genügend Abnehmer für Energie und Rohstoffe, um den Krieg zu finanzieren. Und es gibt noch immer genügend Wege, bestimmte Produkte, die Russland dringend für die Rüstungsindustrie benötigt, zu importieren. Bei der Umgehung der Sanktionen ist man sehr erfinderisch.

● Die wichtigen, elementaren Verbrauchsgüter für das Militär ist man in der Lage, entweder selbst herzustellen oder sie aus noch immer befreundeten Nationen zu beziehen, ohne Konsequenzen zu befürchten.

● Der Westen steht nur auf erstem Blick geschlossen. Natürlich ist der Zusammenhalt nach dem 24. Februar 2022 im Westen eher gestiegen, aber noch immer sind die Risse in dieser Koalition zu erkennen. Wir würden sogar behaupten, dass die Risse in EU und NATO noch nie so klar und deutlich zu sehen waren. Die Regierung Russlands weiß genau, wie man diese Risse nutzt und erweitert, um Uneinigkeit und Destabilisierung zu erreichen. Ein Beispiel ist die wahrscheinliche, aber sehr offensichtliche Beeinflussung Ungarns durch Russland.

● Vor der Invasion Russlands gab es von der US-Administration das Ziel, sich aus Europa weitestgehend zurückzuziehen und den Europäern die Sicherheit auf dem Kontinent in einer Art Eigenregie zu überlassen. Dieses Bestreben geht auf Präsident Obama zurück und wurde von den folgenden Präsidenten mal mehr restriktiv oder weniger bestimmt weitergeführt. Die Sorge Russlands am Anfang des Überfalls war klar, dass die USA von dieser Idee wieder Abstand nehmen. Diese Sorge hat sich zerschlagen. Die Ansage aus Washington an Europa hat sich nicht verändert. Europa soll sich mehr um die eigene Sicherheit kümmern. Egal wer der nächste Präsident wird, diese Richtung wird beibehalten.

● Russland registriert, dass trotz der angespannten Sicherheitslage in Europa und der Haltung der US-Administration die Europäer noch immer sehr zögerlich reagieren und sich davor scheuen, in eine Art Kriegsindustrie zu wechseln. Wichtige Produktionskapazitäten werden nicht aufgebaut, weder um eigenen leeren Rüstungsbestände zu füllen, noch um die Ukraine massiver zu unterstützen.

● Der letzte Punkt, den Russland in den nun fast zwei Jahren lernte, ist, dass die alte Doktrin, den Gegner durch Masse auf lange Sicht zu erdrücken, noch immer funktioniert. Diese Doktrin ist noch immer erfolgreich, da in Russland ein Menschenleben keinen Wert hat und aufgrund der nicht ausreichenden Hilfen des Westens in Richtung Ukraine.

Welche Konsequenzen kann dieser Gewinn an Wissen in Russland haben?

Eine wichtige Konsequenz aus diesem Lernvorgang in Russland wird häufig nicht angesprochen, ist aber elementar, um alle weiteren möglichen Entwicklungen zu erklären und zu untermauern. Durch die Isolation Russlands, die anhaltende unterwürfige Grundhaltung der Mehrheit der Russen und der umfassenden Desinformation im Land, ist es für die Regierung nun möglich, noch sehr viel autokratischer und skrupelloser im Inneren aufzutreten als vor der Invasion. Diese nahezu uneingeschränkte Macht im Inneren führt dazu, dass man die gesamte Industrie auf Kriegsgüter umstellen kann, ohne auf großen Widerstand zu stoßen. Die demokratischen Systeme des Westens sind nicht zu solchen Maßnahmen in der Lage, da die Akzeptanz für deutlich größere Ausgaben im Bereich Sicherheit fehlt.

Diese Kernaussage führt zu diesen weiteren, möglichen, langfristigen Konsequenzen:

● Trotz des anhaltenden Kriegs gegen die Ukraine wird Russland seine Verluste an Material in den Schlüsselpositionen mittelfristig kompensieren können. In Kombination mit der nahezu unerschöpflichen “Ressource Mensch” in Russland (unerschöpflich im direkten Vergleich mit den Möglichkeiten der Ukraine) ist die Aussicht, dass Russland diesen Krieg noch lange weiter führen kann und parallel die eigene Armee wieder auf Vorkriegsniveau regeneriert.

● Dem langfristigen Wiedererstarken folgen zwei mögliche Szenarien. Erstens, die Ukraine verliert weiter nicht nur Land, sondern in großem Maß Leben und damit ukrainische Gesellschaft. Und zweitens könnte man in der Regierung Russlands darüber nachdenken, einen nächsten Schritt zu wagen. Wenn der Westen auch in Zukunft die Zeichen der Zeit nicht richtig deutet und sich dem Feind stellt, könnte Russland in Versuchung kommen, auszutesten, ob die NATO im Fall des Falls tatsächlich zum Wort steht. Sollte die NATO aus dem Grund der Uneinigkeit auf einen Angriff Russlands auf einen NATO-Partner nicht unmittelbar und geschlossen antworten, wäre es das Ende der NATO. Ein Szenario, was wir nicht mehr ausschließen können, ganz im Besonderen, wenn wir betrachten, zu welchen Schritten Russland in der Vergangenheit schon fähig war.

Das Fazit ist, dass die Ukraine mit der Hilfe westlicher Waffen quantitativ und qualitativ in die Lage versetzt werden muss, um Russland aus der Ukraine vollständig zu vertreiben und die Souveränität der Ukraine in den Grenzen von 1991 wieder herzustellen. Dies muss so schnell wie möglich geschehen, um den inneren Druck auf das Regime in Moskau derart zu vergrößern, dass es zusammenbricht. Nur ein Zusammenbruch des Systems, welches die Macht in Moskau hat, kann Frieden in Europa bringen. Es scheint, als habe der Westen eine große Angst vor der Möglichkeit, dass das Gebilde Russland in Stücke zerfällt. Anders ist es kaum zu erklären, dass man nicht alle Wege versucht, dies zu forcieren.

Wir der Weste, müssen weiter unbeirrt an der Seite der Ukraine stehen und unsere Bemühungen beschleunigen und ausbauen. Die Ukraine verteidigt Europa und kämpft um das nackte Leben.

“Wer die Ukraine verrät, verrät Europa!”

Von Thomas Schwerdt. - Dezember 2023.
Avatar photo Die Eskalation des Krieges am 24.Februar 2022 hat alles verändert. Auch diese Seite und über was wir schreiben. Wir schreiben weiter über die Ukraine, was war, was ist und was wieder wird, wenn der Feind besiegt ist.
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