Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl
Ein Reisebericht, eine Zeitreise, von Tarik Bormental, in die Zeit nach der Katastrophe von Tschernobyl, nach Kyїv.
Strahlende Erinnerungen: schwarze Lindenknospen und eine Stadt ohne Kinder.
Heute vor 34 Jahren, an einem sommerlich warmen Samstag, gingen zwei kleine Städte in die Geschichte der Menschheit ein: Tschornobyl und Prypjat. Über den Vorfall wurde sehr viel geschrieben, es existieren tausende Stunden von Filmmaterial, hunderte Bücher und Monografien. Nur ungern wollte ich alles Aufwühlen und eine weitere Zusammenstellung der Fakten (re)produzieren. Aus diesem Grund führe ich hier nur ein paar Mosaiksteinchen meiner persönlichen Erinnerungen an. Als mein kleiner Sohn und ich neulich spazieren waren und einen gesperrten Kinderspielplatz passierten, erlebte ich einen dieser berühmten Flashbacks. Noch eben gerade versuchte ich meinem Sohn die aktuelle Lage zu erklären. Plötzlich stand ich selbst als kleiner Junge, angelehnt mit dem Rücken an einen Betonpilz, auf einem Spielplatz in unserem Plattenbaugebiet in Kiew und schaute meinen Eltern zu, wie sie ein komisches neuartiges Gerät über den Sandkasten hielten. Das Gerät piepte. Meine Mutter meinte, ich solle diesen Spielplatz doch bitte meiden. So wie die Sperrung der Spielplätze heute, entstanden auch damals bestimmte neue unheimliche Verhaltensregeln, die das Leben nachhaltig, zum Teil für immer, veränderten. An diese gewöhnte man sich aber. So zum Beispiel kauften meine Eltern 1991 einen „Haushaltsdosimeter“ der Marke Bella. Das war eigentlich ein Haushalts-Gamma-Strahlung-Dosisleistungs-Messgerät, ein Geiger-Zähler also, nur für den Haushaltsgebrauch eben. Und niemanden fiel auf, wie gruselig und verrückt diese Bezeichnung eigentlich ist: Haushalts-Dosimeter. Und dann noch „Bella“, die Schöne also. Aber man gewöhnt sich an alles. Indessen drängten sich meine Erinnerungsfetzen aus verstaubten Gedächtnisspeichern weiter ans Licht: Meine Eltern, die sich über einen Sandkasten beugen, mit eben diesem Gerät in der Hand, die Gesichter konzentriert-fassungslos. Piep. 70 Mikroröntgen pro Stunde… Das fröhliche Knattern des Messgeräts über dem sattgrünen Rasen an der Stelle, wo das Regenwasser vom Dach unseres Sommerhauses runterlief. Piep. 100 bis 400 Mikroröntgen pro Stunde. Das Jahr 1986. Mein Vater, ein sportlicher junger Mann von 29 Jahren, der von seinem Betrieb für die Demo am 1. Mai als Fahnenträger (oder Transparent-Träger) eingespannt wurde. Die Route: hauptsächlich über den Khreschatyk, die Prachtmeile von Kiew. Jahre später im Tschornobyl-Museum stolperte ich über ein Dokument vom 01.05.1986, das damals den Vermerk „streng geheim“ trug und eine kurze Routine-Mitteilung an die Parteiführung zur Dosisleistung im Zentrum von Kiew darstellte. 1.500 bis 3.000 Mikroröntgen pro Stunde. Piep… Immer noch 1986. Meine Mutter, ebenso jung, wurde von ihrem Chef angebrüllt, als sie einen Sonderurlaub beantragen und mit dem Kind (sprich mit mir) aus Kiew verschwinden wollte. Sie verhalte sich unverantwortlich angesichts der schwierigen politischen Lage, das Ganze sei nur eine Panik, geschürt vom imperialistischen Westen, er könne sie auch anzeigen, wegen der Verbreitung der panischen Stimmung. Ein paar Wochen später verschwand auch dieser Chef samt Familie aus der Stadt… Das Unheimlichste am Jahre 1986 bestand für meinen Vater damals darin, dass Kiew ab Ende Mai für mehrere Monate absolut ohne Kinder war, eine stille kinderlose Metropole mitten im heißen Sommer. Meine Mutter erinnert sich an die damals frisch ausgetriebenen Blätter und halb geöffneten Blattknospen der Linden. Sie wurden schwarz und fielen ab. 1988 oder 1989. Ich erinnere mich an das Mädchen Lena, welches, wie viele andere Kinder an meiner Schule auf Trojeschina, aus einem evakuierten Gebiet kam. Als ich sie ab und an nach Hause begleitete, erzählte sie gern von ihrer Stadt. Sie kam aus Prypjat. Alleine in meiner Klasse waren mindestens 3-4 Kinder aus der „Zone“. Später erzählte uns unsere Lehrerin, dass insgesamt ca. 250.000 Menschen ihr Zuhause für immer verlassen mussten. 1989 bis vielleicht 1994. Da denke ich an Kontaminierungskarten, die nach dem Zerfall der UdSSR in den hiesigen Zeitungen regelmäßig aktualisiert und gedruckt wurden. Begriffe wie Iod-131, Cäsium-137, Strontium-90 und Plutonium-239 lernten wir etwas früher kennen, als es in dem Schulprogramm vorgesehen war… In der dritten und vierten Klasse spielten wir gern „die Havarie am 4. Block“ neben dem Trafo-Häuschen unserer Schule. Wir, die Jungs, waren Feuerwehrmänner und Mädchen waren Ärztinnen…
Im stillen Gedenken
Tarik Bormental, 26.04.2020
PS Die normale zulässige (natürliche) Dosisleistung beträgt im Schnitt 20 Mikroröntgen/Stunden = 0,2 Mikrosievert / Stunde
Danke an Taras für diese Erinnerungen und das Aufzeigen zu den Parallelen der heutigen Zeit. Bleibt gesund liebe Freunde.
Hier noch ein Video aus dem Gebiet um die Stadt Pripyat/Прип’ять. Es trägt den Titel “Roter Wald und die Brücke des Todes.” - Es läuft Euch bei den Geräuschen eiskalt den Nacken hinunter. Immer wieder.
Video von DRONARIUM Ukraine.
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl wird die Menschheit noch für lange Zeit begleiten und sollte immer eine Mahnung an uns sein, dass wir Menschen sind. - Menschen machen Fehler.
Anmerkung: Der Name der Stadt, die sich in unser kollektives Gedächtnis gebrannt, hat ist im Ukrainischen Tschornobyl / Чорнобиль.